2

 

 

 

Willem ging die Old Brompton Road hinunter, wie fast jeden Tag. Er hätte auch seine Zeitungen in Earls Court kaufen können. Doch er ging lieber zu einem Laden am unteren Ende der Old Brompton Road, unweit der U-Bahn-Station South Kensington. Dort gab es einfach die besseren Cafés. Und Zeitungslektüre und eine starke Tasse Kaffee gehörten für Willem untrennbar zusammen, waren fester Bestandteil seines Tagesablaufs. Meistens nahm er einen Milchkaffee oder doppelten Espresso mit einem Sandwich in einem kleinen italienischen Café direkt gegenüber der Dependance von Christie’s.

Aber dort war es heute zu voll. Nur ein paar Schritte weiter, gleich um die Ecke, war ein französisches Café, »Raison d’être« mit Namen. Hier waren alle Tische leer, bis auf einen, an dem ein paar Schülerinnen saßen, die wohl den Unterricht in der nahe gelegenen Französischen Schule schwänzten. Ungeübt bliesen sie den Qualm ihrer Zigaretten gegen die Decke und kicherten.

In seinem ersten Jahr in London hatte Willem noch einigermaßen regelmäßig ein halbes Dutzend Zeitungen seiner belgischen Heimat mit Berichten versorgt. Meistens waren es irgendwelche Geschichten gewesen, die ihm in britischen Zeitungen aufgefallen waren. Er brauchte sie nur zu übersetzen und hier und da einen erläuternden Halbsatz als Hilfe für seine belgischen Leser einzufügen. Aber auch diese Arbeit war ihm mit der Zeit lästig geworden. Inzwischen arbeitete er überhaupt nicht mehr. Nur die ausgiebige Zeitungslektüre hatte er beibehalten.

Mehr zufällig als geplant war er Journalist geworden. Noch vor Ende des Studiums bot ihm ein ehemaliger Schulfreund an, für eine Antwerpener Zeitung als politischer Korrespondent in Brüssel zu arbeiten. Das Schreiben fiel ihm leicht, ebenso, die Riten der belgischen Innenpolitik zu durchschauen. Die einzige Eitelkeit, die er sich erlaubte, war, zwischen seinen Vor- und Familiennamen ein »de« einzufügen. Willem de Breuk, wie er seine Artikel zeichnete, klang ein wenig vornehmer als Willem Breuk. Fast vom ersten Tag an machte er seine Sache gut, ohne zu glänzen. Dazu fehlte es ihm an Ehrgeiz und Leidenschaft. Es dauerte kaum drei Jahre, und man bot ihm die Korrespondentenstelle in Paris an. Ohne lange zu überlegen, willigte Willem ein.

Paris hatte zunächst verlockend geklungen. Paris war für ihn die Stadt jener französischen Schwarzweiß-Filme der frühen sechziger Jahre, in denen halbkriminelle Helden gleichgültig schöne Frauen liebten, ziellos durch überfüllte Bistros irrten, bis sie spurlos in regennasse Nächte verschwanden oder auf dem Schafott endeten. Doch die Kulisse gab es nicht mehr, zumindest schien sie bunt angestrichen. Statt der grauen und schwarzen Limousinen von Peugeot und Citroen verstopften grüne, blaue, rote Modelle ihm unbekannter Marken die Straßen. Auch die Frauen hatten ihre Schönheit eingebüßt. Keine Jean Seberg oder Jeanne Moreau kreuzten seinen Weg, und der Kaffee war nur teuer und schmeckte fad. Er wollte gar nicht bestreiten, dass andere in Paris glücklich sein könnten. Er war es einfach nicht.

Paris war für ihn verlorene Zeit, was er ohne Bedauern registrierte. Ein paar Jahre bewegte sich Willem in der Stadt wie ein gelangweilter Besucher, wobei er sich, wie oft in seinem Leben, mit oberflächlichen Bekanntschaften und bedeutungslosen Liebschaften zerstreute. Nur in eine Frau verliebte er sich ernsthaft. Sie verließ ihn. Er schwieg und trug den Verlust.

Da er immer mehr seine Arbeit vernachlässigte, bestellte ihn eines Tages sein Chefredakteur ein, bot ihm »aus alter Verbundenheit«, wie er sagte, eine Abfindung an, falls er seinen Posten unverzüglich und ohne viel Aufhebens räumte. Willem akzeptierte ohne Widerspruch und verabschiedete sich mit kurzem Gruß.

Kaum war er auf der Straße, brach er in ein euphorisches, geradezu hysterisches Lachen aus. Es war nicht Verzweiflung, es war das Gefühl einer absoluten Freiheit, das sich seiner bemächtigte und dem er sich hemmungslos hingab. In Paris bleiben und es bei einer anderen Zeitung versuchen? Nein. Zurück nach Brüssel oder einen anderen Ort in Belgien? Schon gar nicht. Hätte ihn jemand auf die Schulter geklopft und gesagt, komm mit nach Afrika, er wäre mitgegangen. Aber da waren niemand und nichts, was das Gefühl der Freiheit nur noch verstärkte.

Er hatte nie ernsthaft darüber nachgedacht, was er anderes tun könnte, wo anders er leben könnte. Er nahm die Dinge, wie sie kamen, ob Menschen, ob Orte. Sein Phlegma machte ihn zu einem Abenteurer.

Da kam ihm plötzlich London in den Sinn. Er versuchte nicht sich zu erklären, woher dieser Einfall kam. Er war zwei- oder dreimal für ein paar Tage da gewesen. London hatte ihm gefallen. Er hatte sich durch die Straßen, Museen, Parks und Pubs der Stadt treiben lassen, ohne eigene Anstrengung. Kein Erlebnis, nur Bilder hatte er in seiner Erinnerung behalten. Aber sie erfüllten ihn mit einer angenehmen Sehnsucht, was für seine Entscheidung wohl ausreichte. Es dauerte keine zwei Wochen, und Willem fand sich in einem möblierten Appartement in Earls Court wieder.

Sein ganzes bisheriges Leben ließ er hinter sich, es war ohne jede Bedeutung.

Vor ihm auf dem Tisch türmten sich die Blätter, die er, sobald er sie gelesen hatte, auf dem Stuhl neben sich stapelte. Ein paar englische, ein oder zwei französische und ein oder zwei deutsche gehörten gelegentlich zu seinem Pensum. Willem war immer über alles gut informiert. Er hätte zu jedem aktuellen Thema, sei es aus Politik, Wirtschaft oder Kultur, etwas sagen können, wenn ihn jemand gefragt hätte. Aber es fragte ihn keiner.

Doch am meisten interessierten ihn Skandale und Verbrechen, und am liebsten waren ihm Geschichten aus einer Verbindung von beidem. Er verfolgte sie mit Neugier und Schadenfreude. Der Fall »Hewitt«, der seit Wochen die britische Öffentlichkeit beschäftigte, hatte ihn sofort gefesselt. War Bewunderung der Grund, oder war es Neid, dass ausgerechnet dieser Fall Willem in seinen Bann zog? Seine Besessenheit verhinderte, sich darüber Rechenschaft abzulegen.

Henry Hewitt war Kunsthändler und hatte sich mit der internationalen Kunst-Mafia eingelassen und massenweise asiatische Skulpturen ohne Aus- und Einfuhrgenehmigungen verkauft, die teils gefälscht waren, teils in Thailand und Burma aus Tempeln gestohlen worden waren. Seine Kunden gehörten zur besten Gesellschaft. Selbst auf dem Schreibtisch des Premierministers stand die Miniatur einer Tempeltänzerin aus Hewitts Beständen, bei der es sich um eine »ziemlich plumpe Fälschung« handelte, wie eine Bildunterschrift genüsslich feststellte.

Willem las die täglichen Berichte wie einen Fortsetzungsroman, riss sie heraus und heftete sie zu Hause säuberlich ab. Das Schicksal hatte diesen Henry Hewitt zunächst geradezu verwöhnt – noble Familie, Public School in Winchester, Studium in Cambridge, anschließend schnelle Karriere als Banker, dann Wechsel in den Kunsthandel mit eigenem Geschäft in Londons Nobel-Viertel Belgravia. Die Zeitungen vergaßen ebenso wenig zu erwähnen, dass sein Haus im Südwesten Londons leicht seine zehn Millionen Pfund wert wäre.

Noch war Henry Hewitt nicht verurteilt, nicht einmal angeklagt und noch auf freiem Fuß. Hatten die Zeitungen zunächst seine dunklen Geschäfte durchleuchtet, rückte inzwischen sein Privatleben in den Vordergrund. Die »Times« widmete in ihrer jüngsten Ausgabe eine ganze Seite »Hewitts Frauen«. Seine Ehefrau wurde als »wunderschön« beschrieben. Sie stammte aus einer steinreichen französischen Adelsfamilie, und ihre Mitgift, so wurde behauptet, hätte den Grundstein zu Hewitts Vermögen gelegt.

Leider war Lady Anne-Marie, wie sie im Text genannt wurde, auf dem abgedruckten Foto kaum zu erkennen. Das Bild stammte offenbar aus einem Privatalbum und zeigte das Ehepaar beim Wintersport in den Schweizer Bergen.

Beide trugen dicke Pelzmäntel und Pelzmützen und zudem große schwarze Sonnenbrillen. Trotz der schönen und vermögenden Frau an seiner Seite unterhielt Hewitt zahlreiche Affären. Ein nicht namentlich genannter »Freund« schilderte ihn als wahren Frauenhelden. Als Beleg wurden in einer ganzseitigen Spalte einige seiner mutmaßlichen Eroberungen – alle hübsche Blondinen – abgebildet. Auch eine nahe Verwandte der Queen war dabei.

Hewitt selbst sah auf allen Bildern blendend aus, ob im Smoking oder als Rugby-Spieler. Groß, männlich, mit dickem, welligem Haar entsprach er ganz dem Idealtyp der britischen Oberklasse – eine Art Kennedy, allerdings weniger charismatisch, dafür robuster.

Willem war von ihm fasziniert. Für ihn bestand Hewitts Schuld nicht in seinen kriminellen Machenschaften. Sie nötigten ihm Respekt ab. Immerhin hatte Hewitt damit selbst sein Schicksal in die Hand genommen und nicht wie ein x-beliebiger Geschäftsmann, der auf ganz legale Weise ein Vermögen macht, lediglich seinem Instinkt oder einfach dem Zufall vertraut. Dass Hewitt seinen Erfolg nicht still genießen konnte, sondern mit seiner Prahlerei den Neid der anderen Kunsthändler erweckt hatte, machte ihn in Willems Augen schuldig. Er fand es deshalb nur gerecht, dass Hewitt, der auf allen Fotos gerade irgendeinen Sieg zu feiern schien, offensichtlich für seinen krankhaften Ehrgeiz und für sein übersteigertes Geltungsbedürfnis die Rechnung präsentiert wurde.

Willem verließ das »Raison d’être« und warf die Zeitungen in den nächsten Papierkorb. Die Stunden zwischen drei und fünf Uhr nachmittags waren für ihn die schönste Zeit des Tages. Ganz gleich, was er tat, er musste es nicht tun. Er konnte völlig frei über sich selbst und die Zeit verfügen. Während der Morgen meist einer Routine folgte – Zeitungslektüre, alltägliche Besorgungen –, gab sich der Nachmittag völlig seinem Willen hin. Ein besonderes Vergnügen waren nachmittägliche Kinobesuche.

Er liebte es, am helllichten Tag in das Dunkel der Säle abzutauchen und mit seinen Sinnen und Gedanken in eine andere Welt zu entschwinden. Vor allem der Augenblick, wenn Willem das Kino verließ, war ihm ein Hochgenuss. Die Neige des Tages kündigte sich an. Die meisten Passanten versuchten die verbleibende Zeit für eine dringende Erledigung zu nutzen, während er sich, noch ganz erfüllt von den gerade gesehenen Geschichten und Figuren, erst allmählich an die reale Welt wieder gewöhnen musste. Dann war er mit sich ganz zufrieden. Die anderen, die sich dieses Vergnügen nicht leisten konnten oder wollten, bedauerte er nicht. Für sie hatte er nur Verachtung übrig.

Die meisten Nachmittage verbrachte Willem aber damit, durch Londons Straßen spazieren zu gehen, stundenlang. Die Bewegung war ein Sehen, Denken, Ablenken, Vergessen, aber auch ein Ersatz für das Leben, und vor allem ein Suchen, immer in der Hoffnung, dass etwas geschieht, das seinem Leben eine andere Richtung geben könnte, etwas, mit dem sein Leben erst eigentlich beginnen würde, das richtige Leben, in dem auch er lebte und handelte wie die Figur eines Romans oder Films.

Diesen Nachmittag wollte er auf der King’s Road verbringen. Er liebte die Straße ihrer gespielten Geschäftigkeit wegen, die sich nur um sich selbst und den Konsum von schönen Dingen drehte. Er warf einen flüchtigen Blick in die Auto-Vertretung gegenüber der U-Bahn-Station South Kensington, in der nagelneue Bentleys und Rolls-Royces mit ihrer Wucht und ihrem Chrom protzten, und schwamm dann im allgemeinen Verkehr auf das Michelin-Haus in der Fulham Road zu. Hier war es nicht ganz so eng und laut. Die meisten Geschäfte boten überteuerte Antiquitäten an. Willem schauderte geradezu vor der biederen Behaglichkeit der mit Messing besetzten Mahagoni-Möbel.

Dann glaubte er, in einem Schaufenster doch irgendetwas entdeckt zu haben. Er kehrte um, sah nichts, sah wieder hin. Doch es war nichts als sein Spiegelbild gewesen.

Er bog von der Fulham Road links ab, geradewegs auf die Town Hall in der King’s Road zu. Das eher triste Innere des Standesamtes von Chelsea hatte er einmal als Trauzeuge kennen gelernt. Die Braut kam aus Kroatien und arbeitete in Willems damaligem Stammlokal in Fulham. Den Bräutigam, einen Serben, sah er auf der Trauung zum ersten Mal. Nach der kurzen, etwas holprigen Zeremonie fuhr man gemeinsam im Taxi nach Soho. Ein gemeinsames Pint in einem Pub war die ganze Hochzeitsfeier. Ein paar Monate später sah Willem die Kroatin – sie war kaum älter als neunzehn Jahre – zufällig wieder, ebenfalls in Soho. Sie war in Begleitung eines angetrunkenen Mannes, der gut doppelt so alt war wie sie. Obwohl sie einander sofort erkannten, gingen sie aneinander vorbei, ohne sich eines zweiten Blickes zu würdigen. Willem versuchte sich eine Weile an ihren Namen zu erinnern – vergeblich.

Die King’s Road war voller hübscher Mädchen, die von Boutique zu Boutique stürzten oder einfach mit schnellen weiten Schritten die Straße hinuntergingen, was sie in Willems Augen noch attraktiver machte. Etwa zwei Ecken hinter der Town Hall Richtung Sloane Square ließ er sich in einem Straßencafé auf einen Espresso nieder. Eigentlich war es kein richtiges Café, sondern mehr eine Pizzeria, die bei gutem Wetter draußen ein paar Stühle aufstellte. In der ersten Etage, direkt über dem Café, war eine Modelagentur untergebracht. Ein alternder Rockstar, der in Chelsea wohnte, hatte in einem Interview von den jungen Schönheiten erzählt, die in der Agentur ein- und ausgingen. Jedes Mal, wenn Willem das Haus passierte, erinnerte er sich daran. Die meisten Beauties waren ihm aber zu jung, zu schön, zu langbeinig, als dass er sich erlaubt hätte, über ihre Hingabe nachzudenken. Er genoss den Anblick perfekter Schönheit, mehr nicht.

Vor »McDonald’s« bettelte ihn ein Penner um Kleingeld an. Willem war sich sicher, dass ihn der Penner aus der Masse der Passanten rausgepickt hatte, aus welchem Grund auch immer. Immer pickten sich diese Gestalten Willem heraus, mochte der Menschenauflauf auch noch so groß sein. Er hasste Penner, wie er Montage hasste, sie störten den abzutauchen und mit seinen Sinnen und Gedanken in eine andere Welt zu entschwinden. Vor allem der Augenblick, wenn Willem das Kino verließ, war ihm ein Hochgenuss. Die Neige des Tages kündigte sich an. Die meisten Passanten versuchten die verbleibende Zeit für eine dringende Erledigung zu nutzen, während er sich, noch ganz erfüllt von den gerade gesehenen Geschichten und Figuren, erst allmählich an die reale Welt wieder gewöhnen musste. Dann war er mit sich ganz zufrieden. Die anderen, die sich dieses Vergnügen nicht leisten konnten oder wollten, bedauerte er nicht. Für sie hatte er nur Verachtung übrig.

Die meisten Nachmittage verbrachte Willem aber damit, durch Londons Straßen spazieren zu gehen, stundenlang. Die Bewegung war ein Sehen, Denken, Ablenken, Vergessen, aber auch ein Ersatz für das Leben, und vor allem ein Suchen, immer in der Hoffnung, dass etwas geschieht, das seinem Leben eine andere Richtung geben könnte, etwas, mit dem sein Leben erst eigentlich beginnen würde, das richtige Leben, in dem auch er lebte und handelte wie die Figur eines Romans oder Films.

Diesen Nachmittag wollte er auf der King’s Road verbringen. Er liebte die Straße ihrer gespielten Geschäftigkeit wegen, die sich nur um sich selbst und den Konsum von schönen Dingen drehte. Er warf einen flüchtigen Blick in die Auto-Vertretung gegenüber der U-Bahn-Station South Kensington, in der nagelneue Bentleys und Rolls-Royces mit ihrer Wucht und ihrem Chrom protzten, und schwamm dann im allgemeinen Verkehr auf das Michelin-Haus in der Fulham Road zu. Hier war es nicht ganz so eng und laut. Die meisten Geschäfte boten überteuerte Antiquitäten an. Willem schauderte geradezu vor der biederen Behaglichkeit der mit Messing besetzten Mahagoni-Möbel.

Dann glaubte er, in einem Schaufenster doch irgendetwas entdeckt zu haben. Er kehrte um, sah nichts, sah wieder hin. Doch es war nichts als sein Spiegelbild gewesen.

Er bog von der Fulham Road links ab, geradewegs auf die Town Hall in der King’s Road zu. Das eher triste Innere des Standesamtes von Chelsea hatte er einmal als Trauzeuge kennen gelernt. Die Braut kam aus Kroatien und arbeitete in Willems damaligem Stammlokal in Fulham. Den Bräutigam, einen Serben, sah er auf der Trauung zum ersten Mal. Nach der kurzen, etwas holprigen Zeremonie fuhr man gemeinsam im Taxi nach Soho. Ein gemeinsames Pint in einem Pub war die ganze Hochzeitsfeier. Ein paar Monate später sah Willem die Kroatin – sie war kaum älter als neunzehn Jahre – zufällig wieder, ebenfalls in Soho. Sie war in Begleitung eines angetrunkenen Mannes, der gut doppelt so alt war wie sie. Obwohl sie einander sofort erkannten, gingen sie aneinander vorbei, ohne sich eines zweiten Blickes zu würdigen. Willem versuchte sich eine Weile an ihren Namen zu erinnern – vergeblich.

Die King’s Road war voller hübscher Mädchen, die von Boutique zu Boutique stürzten oder einfach mit schnellen weiten Schritten die Straße hinuntergingen, was sie in Willems Augen noch attraktiver machte. Etwa zwei Ecken hinter der Town Hall Richtung Sloane Square ließ er sich in einem Straßencafé auf einen Espresso nieder. Eigentlich war es kein richtiges Café, sondern mehr eine Pizzeria, die bei gutem Wetter draußen ein paar Stühle aufstellte. In der ersten Etage, direkt über dem Café, war eine Modelagentur untergebracht. Ein alternder Rockstar, der in Chelsea wohnte, hatte in einem Interview von den jungen Schönheiten erzählt, die in der Agentur ein- und ausgingen. Jedes Mal, wenn Willem das Haus passierte, erinnerte er sich daran. Die meisten Beauties waren ihm aber zu jung, zu schön, zu langbeinig, als dass er sich erlaubt hätte, über ihre Hingabe nachzudenken. Er genoss den Anblick perfekter Schönheit, mehr nicht.

Vor »McDonald’s« bettelte ihn ein Penner um Kleingeld an. Willem war sich sicher, dass ihn der Penner aus der Masse der Passanten rausgepickt hatte, aus welchem Grund auch immer. Immer pickten sich diese Gestalten Willem heraus, mochte der Menschenauflauf auch noch so groß sein. Er hasste Penner, wie er Montage hasste, sie störten den harmonischen Ablauf der Dinge. Am liebsten hätte er den Penner auf der Straße wie einen Käfer zertreten. Aber Willem sagte kein Wort. Stattdessen versuchte er ihm einen möglichst angewiderten Blick zuzuwerfen, auf dass er es niemals mehr wagen würde, ihn erneut anzusprechen.

Am Sloane Square angekommen, hatte sich Willem beruhigt. Ein Blick auf die Uhr: Es war gleich halb fünf. Er entschloss sich, im »Oriel« einen Campari zu trinken. Das »Oriel« war das, was sich Londoner unter einem französischen Café vorstellten – und Pariser unter einem englischen Café. Der australische Weißwein schmeckte säuerlich und flach, das Essen war stets lauwarm und zerkocht. Dennoch gaben sich die englischen Gäste alle Mühe, möglichst kontinentaleuropäisch zu wirken. Wer sich kannte, küsste sich nach französischer Sitte auf die Wangen. Auch war es offenbar chic, einander vom letzten Wochenende in Paris oder dem nächsten Sommerurlaub in Biarritz zu erzählen, und zwar so laut, dass der Nachbartisch mithören konnte. Das Gehabe der Londoner Jeunesse doree, die hier verkehrte, war allerdings weit weniger narzisstisch als das der vergleichbaren Pariser oder Münchener Szene. Auch viele Kontinentaleuropäer – sei es aus Heimweh, sei es aus Neugier – suchten gerne das »Oriel« auf wegen seines scheinbar unbritischen Charmes.

Willem hatte an einem winzig kleinen Tisch direkt an der Treppe zum Untergeschoss Platz gefunden, nachdem er seinen Campari an der Bar bezahlt hatte. Die hohen Preise hier erinnerten ihn daran, dass er sich das süße Nichtstun nicht mehr lange leisten konnte. Vier oder fünf Monate, bestenfalls bis zum Herbst, reichten seine Rücklagen noch und das, was er ungerechtfertigt aus Belgien bekam. Denn zwei Zeitungen überwiesen nach wie vor zu jedem Ersten einen kleinen Betrag, obwohl er über ein Jahr nichts mehr für sie geschrieben hatte. Die Redaktionen hatten ihn vermutlich vergessen, und nur für die Buchhaltung existierte er noch. Willem musste aber damit rechnen, dass die beiden Verlage jederzeit ihre Zahlungen, die bestenfalls seine Miete deckten, einstellten oder sogar alte Zahlungen zurückforderten.

Der Campari schmeckte ihm nicht. Er war zu wässrig. Willem hatte vergessen, das Soda extra zu bestellen, um sich die Mischung selbst zu dosieren. Er trank fast das halbe Glas in einem Zug aus und ging hinaus.

Am nächsten Geldautomaten machte er Halt, nicht um Geld abzuholen, sondern um seinen Kontostand zu überprüfen. Seine Berechnung war richtig gewesen. Auch bei eingeschränkter Lebensweise würden seine Rücklagen nur noch für vier Monaten reichen, und zwei Monate mehr, falls die Zeitungen ihre Überweisungen nicht einstellten. Willem überquerte den Platz und bewegte sich zielstrebig auf den Eingang von »Hackett« in der Sloane Street zu.

Was für Holly Golightly »Tiffany’s« war, war »Hackett’s« für ihn. Er kam oft hierher, einfach um eine halbe Stunde zu verweilen. Die Zeiten, wo er hier Hemden und Jacketts kaufen konnte, waren längst vorbei. Niemand schien aber Anstoß daran zu nehmen. Er wurde höflich begrüßt und auch so bedient. Manchmal probierte er sogar stundenlang Sachen an, bedankte sich und ging seiner Wege.

Heute aber fehlte Willem die rechte Stimmung. Lustlos ging er an den Tischen mit den Krawatten vorbei, ließ ohne echtes Interesse seinen Blick über die Hemdenregale gleiten. In die obere Etage, in der Mäntel und Anzüge angeboten wurden, mochte er schon gar nicht gehen. Der Besuch bei »Hackett’s« brachte nicht die gewünschte Wirkung. Statt ihn abzulenken, machten ihm die schönen und vor allem teuren Dinge, die er gerne besitzen würde, erst recht seine Lage bewusst.

Draußen dämmerte es bereits. Willem schlenderte Richtung Knightsbridge. Es half nichts. Er brauchte Geld, viel Geld, und das möglichst schnell. Mit Arbeit – das hatte er tausendmal gedanklich durchgespielt – würde er nie zu dem Geld kommen, das er für das Leben, das er sich vorstellte, brauchte. Außerdem schloss das Leben, das er führen wollte, Arbeiten aus. Er machte sich nichts vor. Er besaß keinerlei Talente, um schnell an Geld zu kommen, und auf eine Erbschaft konnte er schon gar nicht hoffen.

Um den Massen zu entgehen, die um diese Uhrzeit in die U-Bahn-Station Knightbridge strömten, bog Willem in eine schmale Straße ein, die direkt am Süd-Eingang von »Harrod’s« vorbeiführte. Dort warteten Chauffeure in grauen Anzügen – nur wenige in Uniform – geduldig auf ihre shoppingsüchtigen Ladies. Er betrat ein französisches Bistro auf der anderen Straßenseite, von dem man die Abfahrt der reichen Herrschaften verfolgen konnte.

Doch das Schauspiel draußen war nur etwas für Touristen. Das Publikum an den übrigen Tischen, das überwiegend aus geschmackvoll und teuer gekleideten Frauen um die fünfzig bestand, weckte weitaus mehr sein Interesse. Einige sahen durchaus noch passabel aus, was sie einer Mischung aus gesunder Abstammung, ausgeglichener Lebensweise und sorgfältiger Körperpflege verdankten. Geldsorgen, da war sich Willem sicher, hatte wohl keine von ihnen jemals kennen gelernt. Entweder lebten sie von ererbtem Vermögen oder ließen sich von ihren Männern oder Ex-Männern aushalten. Einer die eigene Existenz sichernden Beschäftigung war keine in ihrem Leben nachgegangen.

Er beneidete diese Frauen. Sie schienen sich jeden Wunsch erfüllen zu können. Oft hatte er daran gedacht, irgendeine einfach anzusprechen. Doch was hätte er anzubieten? Willem wusste selbst, dass er auf den ersten Blick nichts Anziehendes hatte. Alles an ihm wirkte durchschnittlich: Sein aschblondes Haar, seine graublauen Augen, sein blasser Teint. Er war schlank, aber nicht sportlich, mittelgroß. Nicht einmal seine Kleidung hob ihn wirklich aus der Masse heraus. Er war stets gut, aber nicht auffällig oder gar extravagant angezogen. Dazu fehlte ihm der Mut. Im Winter trug er vornehmlich klassische Sportsakkos, die er mit Cord- oder Flanellhosen kombinierte, im Sommer Baumwoll- oder Leinenjacken oder Blazer zu grauen oder hellen Hosen. Anzüge trug er selten aus Mangel an Gelegenheit. Willem war überzeugt, er hätte nichts anzubieten, kein Geld, keine Position, keinen Titel, nichts, womit er die Frauen hätte beeindrucken können.

Am Tisch gegenüber saßen zwei Amerikanerinnen, die eine alt, die andere jung, die sich offenbar auf einem Einkaufsbummel durch halb Europa befanden. Wie Beutestücke lagerten Einkaufstüten mit den Schriftzügen bekannter Edelmarken unter ihrem Tisch. Die mit Schmuck behangene Alte hatte ihre Haare lila gefärbt und fragte die Kellnerin mit deutlich texanischem Akzent, ob sie Bourbon hätte, was ihre Tochter, eine marmorartige Schönheit, mit einem »Aber Mutter!« kommentierte.

Auch zehn Jahre jünger wäre Willem nicht als ein Mann für gewisse Stunden diesen einsamen Herzen aufgefallen, nicht einmal als Freund und Seelentröster. Ihm fehlte jede Galanterie, überhaupt die Fähigkeit, ernsthaftes Interesse an einer Person einigermaßen dauerhaft zu heucheln, die ihm letztlich gleichgültig war. Seine Aufmerksamkeit hätte bestenfalls ausgereicht, eine Frau in ein Gespräch zu verwickeln, ihre Sympathie zu gewinnen, sie dann aus vorgespielter Höflichkeit nach Hause zu begleiten, um sie dort… Ja, was dort…? Wie weit würde er gehen, um an ihr Geld zu kommen? Würde er sie niederschlagen, fesseln, knebeln, vielleicht sogar töten?

Willem schaute sich um. Könnte er wirklich eine dieser Frauen töten, die zum Greifen nahe saßen und deren Lebenszweck vor allem darin bestand, auf möglichst vielen Gläsern, Tassen und Zigaretten den Abdruck ihres Lippenstifts zu hinterlassen? Er stellte sich die Frage nicht zum ersten Mal. Er hatte sie sich schon häufig gestellt und immer positiv beantwortet. Die einzige Bedingung war, es müsse kurz und einigermaßen schmerzlos geschehen. Freude am Töten zu empfinden, wäre ihm mit Sicherheit fremd. Die Gewalt wäre nur das unvermeidliche Mittel zu dem Zweck, an das Geld, ihr Geld, das er haben wollte, heranzukommen. Nur darum würde es ihm gehen, nichts anderes.

Aber was hielt ihn noch ab? Warum beugte er sich nicht etwa zu der gepflegten Frau um die fünfzig am Nachbartisch hinüber? Warum bat er sie nicht um Feuer? Warum verwickelte er sie nicht in eine leichte Konversation? »Schönes Feuerzeug! Ein Dupont, vermute ich«, könnte er zum Beispiel das Gespräch unverbindlich einleiten. Sie würde ihm vielleicht erzählen, unter welchen Umständen das gute Stück in ihre sorgsam manikürten Hände gelangt war. Man könnte sich über Last und Lust des Rauchens austauschen, um dann zu Last und Lust des Lebens im Allgemeinen überzugehen. Von hier aus bis zu ihrem Fünf-Zimmer-Appartement in einem viktorianischen Backsteinblock in Kensington wäre es nur ein Sprung. Es müsste auch nicht sofort sein. Man könnte sich noch ein- oder zweimal beinahe zufällig treffen, zum Lunch bei »Harvey Nichols« zum Beispiel, bevor sich das edle Seidentuch um ihren leider schon etwas faltigen Hals legen würde.

Er hatte keine moralischen Bedenken. Es hatte andere Gründe, warum er nicht so weit ging, ganz praktische Gründe. Es war kaum anzunehmen, dass in den eleganten Wohnungen dieser Frauen, so wohlhabend sie auch sein mochten, Bargeld gleich stapelweise herumliegen würde. Mit Schmuck, Bildern oder Antiquitäten konnte Willem nichts anfangen. Wo könnte er dergleichen Dinge losschlagen? Nach Abwägen des Für und Wider war ihm das Risiko einfach zu groß.

Aber Skrupel? Nein, die hatte er nicht. Ein gelungenes Verbrechen war die einzige Möglichkeit, dachte er, die ihm aus seiner vertrackten Lage heraushelfen könnte. Vielleicht war er sogar zum Verbrecher geboren, wie andere zum Metzger, Richter oder Priester, nicht aus Berufung oder Leidenschaft, sondern weil er wie sie nichts anderes konnte.